„Das bleibt – das bleibt, unendlich Licht und Dämmerung,
das bleibt, das bleibt, grenzenlose Heiterkeit
und tägliche Veränderung.“
(Klaus Hoffmann 1976)
Nach dem Transformation Festival ist vor dem Transformation Festival
Das Transformation Festival wird auch 2018 wieder nach Berlin einladen. Und die Akademie für Visionautik will damit ein spannendes Gemeinschaftserlebnis vom August 2016 wiederholen. Worum ging es diesmal, und warum sollte dies beim nächsten Mal niemand verpassen?
Beim Transformation Festival geht es um einen Wandel gewohnter Sichtweisen aufs Lernen und Zusammenarbeiten, erfahre ich hautnah. Hinter Transformation steht im englischen Sprachraum ein ganzheitliche Alternativkultur für persönliches Wachstum, soziale Verantwortung, gesundheitsbewusste Lebensweise und kreative Ausdrucksformen. Im experimentellen Transformation Festival erkenne ich diese Werte wieder. Mich erwartet heute ein zugleich gemeinschaftliches und individuelles Lernerlebnis an verschiedenen Orten der Stadt, ein Erlebnis intensiver Teilhabe und Selbstwirksamkeit.
Mit Kreuzberger Hinterhof-Atmosphäre in der Oranienstraße beginnt der Tag. Noch schnell Tee, frisches Obst und eine praktische Einführung in die Tuchjonglage mitgenommen – als Ermutigung für den Tag, weil heute das, was schwer zu sein scheint, unsetzbar werden soll. Den “Kulturwandelbeutel” der Visionauten über die Schulter gehängt geht es los – darin steckt auch ein kleiner schwarzer “Medizinbeutel” voll Perlen und Geldstücken mit seltenen Währungsbezeichnungen: “Wandel”, “Klarheit”, “Leichtigkeit”, “Überschwang” und “Mut”. Zwanzig Workshops stehen zur Auswahl in den Wohnzimmern Berlins – ich habe meine individuelle Reiseroute aus den drei Kategorien persönlicher, organisationeller oder globaler Transformation gewählt.
Unterwegs zum ersten gewählten Workshop tauschen wir in kleiner Gruppe Lebensgeschichten aus und genießen es, gemeinsam voran zu kommen. Nach etwa zwei Kilometern ist das erste Wohnzimmer erreicht. Auf Sesseln und Couch sitzend kommen vielsprachige Gespräche zustande – auf deutsch, englisch, italienisch, spanisch. Thema ist hier die Macht der Wörter. Übungen zur Selbsterfahrung wechseln sich ab mit kurzweiligen Lerneinheiten aus interkulturellen Trainings. Muna Wagner leitet hier, sie ist in sechs verschiedenen Ländern aufgewachsen und begeistert sich für die Vielfalt der Kulturen in Berlin. In New York studierte sie das Drehbuchschreiben und arbeitet in Berlin als freie Trainerin und dramaturgische Beraterin. Rhabarberschorle wird ausgeschenkt, um die Stimmen zu ölen. In Erinnerung bleibt mir, erfahren zu haben, aus welchen Körperregionen “Ja” und “Nein” schwingen, und dass dies in anderen Sprachen anders ist. Ein schöner Einstieg in den Reigen des Festivals mit Salonatmosphäre.
Ich denke an Boris und Jutta Goldammer von der Akademie für Visionautik. Sie sind die treibenden Kräfte fürs Transformation Festival Berlin und hatten mir von ihrer internationalen Partnerschaft für Transformations-Lernen mit acht europäischen Organisationen erzählt. Seit 2013 finden jährlich Seminare für professionelle Begleiter von Prozessen des Wandels statt – “Hosting Transformation Days” gab es in Schweden, Kroatien, Italien und schließlich in Berlin. Erstmals haben sie 2016 das Seminar direkt anschließend durch dieses öffentliches Festival erweitert – mit der Absicht, Bausteine zu persönlicher und beruflicher Entwicklung allen Menschen zugänglich zu machen.
Nachdem ich im ersten Wohnzimmer noch spontan zum Mittagessen eingeladen werde, wähle ich zum zweiten Workshop den Bus und tauche ein in eine faszinierende Präsentation der US-amerikanischen Künstlerin Betsy McCall. In Italien gründete sie in einem ehemaligen Kloster einen kollaborativen Ort für Künstlerinnen und Künstler und nennt ihre Arbeitsweise Art Monks Style. Ihr Thema ist, wie angelehnt an klösterliche Traditionen in Zeremonien Gemeinschaft entwickelt werden kann. In diesem Wohnzimmer sitzen überwiegend junge Leute meist auf dem Parkettboden. Die Gesprächskultur im Raum erinnert mich an die Atmosphäre während meines Studiums in den 1970er Jahren, als unter Bildung verstanden wurde intensiv zu diskutieren, zu ringen um die richtige Frage, den treffenden Begriff, das gemeinsame Verständnis. Anders ist heute nur, dass ein Teilnehmender mit Graphic Recording alle Impulse live an der Wand aufzeichnet und so eine weitere Ebene der Reflektion einzieht. Auch hier vergehen die 90 Minuten wie im Fluge, und ich wandere durch den Görlitzer Park weiter.
Ich reflektiere, was eine besondere Qualität des Transformation Festivals ausmacht. Mir geht durch den Kopf, dass das Lernen hier nicht alleine stattfindet. In der Gruppe wurden mehr Fragen gestellt und mehr Antworten gegeben als je in einem gewohnten Lernprozess zwischen Lernendem, Lehrendem und Medien möglich wären. Nach diesem Wohnzimmer-Workshop verbinde ich den Art Monks Style mit einer Theorie, mit Praxis und konkreten Menschen, die mir nah waren. Alle Sinneskanäle waren offen und voll Neugier dabei. Ich war Teil eines Gebens und Nehmens auf gleicher Augenhöhe mit allen anderen, fühle mich gesehen und beschenkt. Die Lernsituation war von überschaubarer Größe und reichte dennoch in die Welt hinaus.
Mein dritter Workshop findet in einem großen Büro in Alt-Treptow statt – das Firmenschild verheißt, hier wird an angewandten Utopien gearbeitet. Felix Rübcke steht nun in der Mitte, er hat Organisationsentwicklung in England, Costa Rica und Deutschland studiert. Forschungsergebnisse bringt er uns näher: Wie treffen Menschen Entscheidungen? Wie befähigen sich Organisationen, neue Ideen in die Tat umzusetzen? Interessant finde ich die drei sogenannten “ehrenwerten Helfer” zum Entscheiden mit Kopf, Herz und Hand: Nichtwissen (als Voraussetzung zu lernen), Verwirrung (als Impuls überkommene Überzeugungen zu reflektieren) und Ratlosigkeit (als Motivation nutzlose Strukturen zu überdenken). Anschaulich führt er ins Tetralemma ein, ein logisches Schema zur Erweiterung von Entscheidungs- und Handlungsräumen in unlösbar erscheinenden Situationen. Reale Entscheidungsprobleme anwesender Festivalbesucher werden aufgegriffen und somit die Theorie konkret verstehbar.
Nach so viel Intensität brauche ich einen leichten Spaziergang. Gemeinsam mit einer anderen Teilnehmerin erwandern wir uns das Ufer am Rummelsburger See und lassen uns ab Ostkreuz mit der S-Bahn zum Prenzlauer Berg fahren, dem Stadtteil, in dem sich schon vor vier Jahrzehnten ein starkes Zentrum des Wandels in Opposition zur Staatsführung entwickelt hatte. In einem Szenelokal, das sich über Erdgeschoss, Keller und Garten mit Tangoschule und Musikbühne erstreckt, klingt das Transformation Festival aus. Hier versammeln sich Teilnehmende, Plakate, Wandzeitungen, Arbeitsergebnisse aus allen zwanzig Workshops. Ich lese “Heraus aus dem Gedankenstrudel – im Hier und Jetzt ankommen”, ich nehme aus Zeitungspapier kunstvoll geflochtene Behältnisse in die Hand und entdecke die Einladung “eine Arbeitskultur zu schaffen, die auf Kollaboration fußt”. Auch über evolutionäres Management erfahre ich, wie Muster aus der Natur analysiert werden, um Unternehmen und Organisationen eine neue Form zu geben.
Als besonderes Highlight des Abschlussfestes ist eine Persönlichkeitswechselstube eingerichtet: “Seien Sie heute jemand Anderes”, lautet die Aufforderung, es werden ein Menu der Eigenschaften, Kostüme und Masken, persönliche Beratung und handgezeichnete neue Ausweispapiere angeboten. Im augenzwinkernden Humor dieser Einladung liegt eine Menge Leichtigkeit und Glückseligkeit. Die grundlegenden Fragen sind: Wer will ich sein und was will ich lernen, was noch erproben und verändern in der Welt? Und mit wem verbünde ich mich dafür?
Nun bin auch ich ein Pionier des Wandels, ein Botschafter für kühne Transformation und gesellschaftliche Innovationen geworden. Das Transformation Festival Berlin 2016 schenkte mir einen Tag voll interaktiver Vorträge, experimenteller Sessions und Kunstaktionen mit Vordenkern und Vorfühlern einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Ein solcher Tag “ersetzt” mit seiner Themenfülle, Internationalität und Selbstbestimmung beim Lernen mindestens eine Woche Erwachsenenbildung oder einen ganzen Monat Schulunterricht. Daran auch beim nächsten Mal 2018 wieder teilzunehmen kann nur von ganzem Herzen empfohlen werden.
Stephan G. Geffers (Partizipation und Organisationsentwicklung – parto gUG Köln)